Gewalt gegen Berliner Lehrkräfte
Gewalt gegen Berliner Lehrkräfte
Schriftliche Anfrage von Jan Lehmann, MdA offenbart das Ausmaß der Gefahr
Jan Lehmann, Sprecher für Verfassungsschutz und Recht der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus: „Täglich bereiten Lehrkräfte junge Menschen auf ihre Zukunft vor – und doch sind sie immer wieder Anfeindungen, Bedrohungen oder sogar körperlichen Angriffen ausgesetzt. Dass Schulen, die als Lernorte ein vertrauens- und respektvolles Miteinander ermöglichen sollen, immer häufiger zu Brennpunkten von Gewalt und Konflikten werden, dürfen wir in Berlin nicht einfach so hinnehmen.“
Gewalt gegen Lehrkräfte ist ein bundesweites Problem
Immer häufiger werden Lehrkräfte beleidigt, bedroht und körperlich angegriffen – das zeigt auch eine kürzlich veröffentlichte Forsa-Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung, in der zwei Drittel der bundesweit 1.300 befragten Schulleitungen angaben, dass ihre Lehrkräfte in den vergangenen fünf Jahren direkte psychische Gewalt etwa durch Beleidigungen und Bedrohungen erfahren haben. Auch körperliche Angriffe gab es nach Angabe der Schulleitungen in 35 % der Fälle.
Auch in Berlin kommt es immer wieder zu Schlagzeilen über Gewalt an Schulen und gegen Lehrkräfte. Wie sich die Gewaltvorfälle an den Berliner Schulen und gegen Lehrkräfte in den vergangenen Jahren allgemein entwickelt haben, hat der SPD-Abgeordnete Jan Lehmann nun im Rahmen einer schriftlichen Anfrage vom 15.01.2025 erfragt.
Der polizeilichen Eingangs- bzw. Verlaufsstatistik Datawarehouse Führungsinformation (DWH FI) sind dabei aus den Jahren 2019 bis einschließlich 2024 hinsichtlich sogenannter Opferdelikte gegen Lehrkräfte alarmierende Anstiege zu entnehmen.
Deutlicher Anstieg der Gewaltvorfälle gegen Lehrkräfte in Berlin
Danach kam es 2019 in ganz Berlin noch zu 186 Fällen von psychischer und physischer Gewalt gegen Lehrkräfte – die Fallzahl stieg bis 2024 (mit Ausnahme der Pandemiejahre 2020 und 2021) auf den aktuellen Höchststand von 283 Fällen an und zeigt damit eine Steigerung der Vorfälle um über 50 %.
Der massivste Anstieg an Fallzahlen zeigte sich, nachdem die Schulen 2020 und 2021 pandemiebedingt zum Teil keinen Präsenzunterricht durchführten und 2022 der Präsenzunterricht wieder vollumfänglich aufgenommen wurde. Darüber hinaus könnte die Dunkelziffer noch weit höher liegen, denn es melden möglicherweise nicht alle Lehrkräfte, was ihnen im Dienst widerfahren ist. Ergebnisse der Forsa-Umfrage zeigen in diesem Zusammenhang, dass nur knapp die Hälfte aller gewaltbetroffenen Lehrkräfte ausreichend unterstützt werden konnte.
Die Fallzahlen variieren dabei zwar zwischen den verschiedenen Schulformen, doch bereits in der Grundschule zeigen sich vergleichsweise viele Fälle von Körperverletzungen und Nötigungen. Dabei stellen Körperverletzungen in den Jahren 2019 bis 2024 an allen Schulformen insgesamt die häufigste Straftat dar. Auch zu Bedrohungen, Nötigungen und Freiheitsberaubungen kam es über die Jahre hinweg an allen Schulformen, wobei Schulen mit Förderbedarf sowie integrierte Sekundarschulen besonders betroffen sind.
Fallzahlen variieren zwischen den Schulformen; Gewaltintensität steigt
Auch zeigt sich, dass schwerere Delikte ab 2022 zugenommen haben. So gab es 2022 an einem Gymnasium in Berlin-Mitte einen versuchten Mord, in den Jahren 2022 und 2024 je einen Raubüberfall sowie in den Jahren 2022 bis 2024 zum Teil gefährliche und schwere Körperverletzungen gegenüber Lehrkräften.
Gleichzeitig steigen die Zahlen der Polizeieinsätze an den Berliner Schulen. Auch wenn die vom Senat übermittelte Tabelle alle Polizeieinsätze an den erfassten Anschriften (und somit auch Einsätze außerhalb des direkten Schulbetriebes bzw. -geländes) beinhaltet, zeigen sich zwischen 2019 und 2024 Steigerungen bei Einsätzen zu Amtshilfe, Körperverletzungen und sonstigen Streitereien.
Neben schulrechtlichen Sanktionsmaßnahmen nach dem Berliner Schulgesetz wurden nach Auskunft des Senats gegen gewaltausübende Schüler:innen Strafanzeigen gestellt und Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Die Angaben des Senats zeigen einen deutlichen Trend. Lehmann hierzu: „Die steigenden Zahlen sowie die zunehmende Intensität der Gewalt deuten insgesamt auf eine sinkende Hemmschwelle für Gewalt hin. Wenn dies – wie hier – gerade diejenigen trifft, die sich für Bildung, Gesundheit oder das Gemeinwohl einsetzen, leidet am Ende die gesamte Gesellschaft darunter.“
Senat reagiert mit Präventionsmaßnahmen und Krisenteams
Doch wie reagiert der Senat auf diese Entwicklung? Im August 2024 wurde den Berliner Schulen die 3. Auflage der Notfallpläne für Berliner Schulen zur Verfügung gestellt. Die Notfallpläne enthalten Handlungsempfehlungen zum Vorgehen in 28 verschiedenen Notfallsituationen für Lehrkräfte und Schulleitungen.
Gemäß diesen Notfallplänen informieren Lehrkräfte ihre Schulleitungen über einen Gewaltvorfall. Nach den Ausführungsvorschriften für das Handeln bei schweren Gewaltvorfällen, Notfällen und Krisen in Schulen sind die Schulen verpflichtet, Gewaltvorfälle, Notfälle und Krisen aufzuarbeiten. Im weiteren Verlauf werden dafür ggf. die Klassenleitung, das gemäß § 74 a des Berliner Schulgesetzes verpflichtend einzurichtende Krisenteam sowie die Schulaufsicht über den Vorfall informiert. Bei weiterem Unterstützungsbedarf wird zusätzlich das Schulpsychologische und Inklusionspädagogische Beratungs- und Unterstützungszentrum (SIBIUZ) angefragt. Arbeitspsychologische Einzelberatungen für betroffene Lehrkräfte werden durch das Arbeitsmedizinische Zentrum der Charité angeboten. Doch ist dies ausreichend?
Dringend erforderlich: Langfristige Strategie
Um langfristig gezieltere Unterstützungsmaßnahmen zu ermöglichen, werden seit dem Schuljahr 2024/25 Gewaltvorfälle durch die Schulen zentral erfasst. „Die zentrale Erfassung ist ein erster wichtiger Schritt des Senats, um ein umfassendes Bild darüber zu erhalten, wie die Situation an den Berliner Schulen aussieht – doch wichtig ist auch, was mit den Erkenntnissen im zweiten Schritt gemacht wird. Hierfür braucht es passgenaue Interventions- und Präventionsmaßnahmen“, so Lehmann.
Zwar werden Lehrkräfte, Schulleitungen und Mitglieder der schulischen Krisenteams nach Angabe des Senats zu den Themenbereichen der „Notfallpläne für Berliner Schulen“ geschult und es finden Deeskalationstrainings statt, doch das allein ist nicht mehr ausreichend.
Unter Federführung der Geschäftsstelle der Landeskommission Berlin gegen Gewalt wird nach Angaben des Senats derzeit in einer ressortübergreifenden Arbeitsgruppe an einem umfassenden Leitfaden zur Prävention von Gewalt gearbeitet. Dies jedoch nicht ausschließlich mit Blick auf bestimmte Personen- bzw. Berufsgruppen wie Lehrkräfte, sondern für alle Beschäftigten im Landesdienst. Der Leitfaden soll „vielfältige Informationen zu Risikofaktoren, zur Gefahreneinschätzung, zu Präventions- und Interventionsmaßnahmen sowie zur Nachsorge für Gewaltbetroffene“ beinhalten und noch im ersten Halbjahr 2025 veröffentlicht werden. Inwieweit der Leitfaden für Beschäftigte im Landesdienst für die besondere Berufsgruppe der Lehrkräfte und ihre Konfliktsituationen mit Schüler:innen und Eltern anwendbar sein wird, bleibt abzuwarten. Letztlich braucht es aber nicht nur ein Bekenntnis zum Schutz von Lehrkräften und anderen Beschäftigungen vor Gewalt, sondern auf allen Ebenen ein effektives Handeln, wirksame Präventionsmaßnahmen und konsequente Ahndung von Straftaten.